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Humaner Endpunkt
Schreibstar 2019
Veröffentlicht in: "Die gruseligsten Horrorgeschichten"
Wieder diese verdammten Klimastreiker! Schwänzen, um die Welt zu verbessern, jaja. Unsereins arbeitet an einem Freitag - an vorderster Front der Wissenschaft, an der Entwicklung neuer Antibiotika! Man muss nur die Relationen sehen: multresistente Bakterien drohen die Menschheit hinzuraffen, lange bevor die Treibhausgase unseren Planeten rösten.
Mir strömt Schweiss über das Gesicht, wie ich mich so durch die Massen der Klimakids kämpfe. Es ist heiss, aber hey, es ist Sommer! Trotdzem bin ich froh, kann ich endlich in die klimatisierte Kühle des Laborgebäudes eintauchen. Der Rest ist Routine: Raus aus den Klamotten, rein in den Overall. Überschuhe, Handschuhe und Mundschutz. Ohne Klimaanlage wär das die Hölle.
In Raum EL318 warten rund zweitausend Mäuse auf mich. Checken, wägen, spritzen. Wieviele wohl über die Nacht eingegangen sind?
Erst infizieren wir die Mäuse mit Bakterien, dann testen wir Antibiotika an ihnen. Und wenn die nicht wirken …
Mit einem Zischen öffnet sich die Stahltür zum Versuchsraum. Unterdruck, damit auch ja kein Bakterium entwischt. Zwischen den Gestellreihen bewegt sich eine Gestalt im Overall: Kollege Devin, bereits an der Arbeit. Er nickt mir zu, hievt zwei Käfige aus dem Gestell. Darin wuseln weisse Mäuse.
“Kannst du mal das Radio anwerfen?” Seine Stimme klingt dumpf unter dem Mundschutz.
„Klar doch!“ Ich drücke den Knopf.
Knacken und Rauschen. Verdammt. Haben die jetzt tatsächlich das gute alte UKW abgeschaltet? An einem Freitagmorgen? Ich zwirble den Regler, bis ich doch noch Stimmen höre. Keine Musik. Egal.
“Weltweit an diesem Freitag wieder Proteste der Klimajugend …”
Schon wieder Klima! Reicht es nicht, dass die vor unserem Laborgebäude protestieren? Ich hole den ersten Käfig hervor. Routine, auch hier: Maus am Nacken packen, Nadel in den Bauch stecken, Antibiotikum injizieren, zurück in den Käfig. Die nächste. Die übernächste. Tausendmal.
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“Die Versuchssubjekte diskutieren immer noch darüber, ob sie den Klimawandel selber verursacht haben, oder ob die Klimakatastrophe nicht doch nur Fake News des gegnerischen Machtblocks sei.“
„Lächerlich.”
„Leider.”
Die Maus, die in meinem Griff hängt, sieht schitter aus. Gesträubtes Fell, eingesunkene Augen.
„Devin, sieh dir diese Maus mal an.” Ich überprüfe die Ohrmarke. „Versuchssubjekt M-183, Kontrollgruppe.” Das heisst, kein bisschen Antibiotikum in dem Zeugs, was wir ihr spritzen. Die Maus kratzt an der Bakterieninfektion ab.
Devin kommt und betrachtet die Maus von allen Seiten. “Nicht gut.”
Er misst die Körpertemperatur des Tieres. “40 Grad Fieber. Die wird nicht wieder.”
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„Es geht doch nur darum, dass sie liebgewonnene Gewohnheiten nicht aufgeben wollen. Autofahren, fliegen, shoppen, konsumieren, wegwerfen.“
„Dabei hätten sie die Technologie.”
„Aber nicht den Willen.“
„Also abbrechen?”
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Devin nickt. “So verlangt es die Vorschrift über humane Endpunkte. Wir wollen doch nicht unnötig Leiden verlängern.”
Ich werfe die Maus in den Behälter und drehe den Gashahn auf. Unsichtbar flutet das Narkosegas die Todeskammer. Alles im Dienst der Forschung.
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“Und, ist der Point of no Return erreicht?“
“Auch darüber streiten sie sich noch.”
“Die streiten sich über alles. Also, deine Fachmeinung?”
“Nun ja, wenn sie jetzt nicht sofort reagieren, geht es nur noch bergab. Respektive aufwärts mit der Temperatur, bis der Planet in Hitze, Chaos und Klimakriegen versinkt.”
Die Maus rennt umher, versucht rauszuspringen, reisst den Mund auf, ringt um Atem. Um ihren Todeskampf nicht mitansehen zu müssen, lausche ich der Klimadebatte im Radio.
“Und wie wahrscheinlich ist es, dass die Subjekte die Erwärmung noch stoppen können?”
“Sieh sie dir doch an!”
“Das heisst, keine Chance. Dann brechen wir den Versuch hier ab, um unnötiges Leiden zu verhindern.”
Von was reden die da?
“Schade, dabei fing es mit dieser Spezies vielversprechend an. Sie erfand immerhin Antibiotika und Atomspaltung.“
„Aber verbrennt trotzdem noch Erdöl und Kohle.“
„Da sind die Klimaproteste der Jungen…”
„Hatten wir schon auf anderen Planeten, änderte aber nichts am Ausgang.“
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Will uns da jemand verscheissern? Devin tritt neben mich. In seiner Hand hockt gekrümmt eine zweite Maus, auf die nur noch der Gastank wartet.
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“Sag jetzt nicht, dass du Mitleid hast. Genau deshalb müssen wir hier einen humanen Endpunkt setzen. Denk an all das Leid, wenn das Klima ausser Kontrolle gerät: Dürre, Hunger, Armut, Not, Massenflucht, Krieg. Willst du ihnen das zumuten?”
“Nein, natürlich nicht.”
“Was redet der für Zeugs?” Devin holt die tote Maus aus dem Tank und legt den nächsten Todeskandidaten rein.
“Dann ist es besser, hier und jetzt abzubrechen, ja? Sie werden nichts spüren, genausowenig wie die Bewohner von zehntausend anderen gescheiterten Planeten vor ihnen.”
“Von mir aus. Also dann: initialisiere humane Auslöschung des Planeten Erde, Sonnensystem. T minus 10, 9, 8, ….”
Die Maus im Gastank schnappt nach Luft. Die Mäuse in den Laborkäfigen hören auf zu nagen, ihr Rascheln erstirbt. Devin und ich sehen uns an. Es wird still, ganz still.